Der Schrei

Lesezeit: 6 Minuten
Der Schrei, Lithografie von Edvard Munch, 1895 – Fotografie Villy Fink Isaksen
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Diese Geschichte hätte keine Überschrift gebraucht. Die berühmte Lithografie des norwegischen Künstlers Edvard Munch vor Augen genügt vollkommen. Der Titel wäre dann klar, ebenso die vielfältige Stimmung des Momentes: Man kann sie vielleicht als eine Mischung aus Angst, Kälte, Ohnmacht, Panik und Verzweiflung beschreiben. In der folgenden Story wäre das allerdings zu kurz gesprungen. Hier kommen noch weitere wichtige Aspekte dazu, die die Situation schließlich verändern – und zwar völlig!

Ein Satzschnipsel

Es ist schon komisch: Manchmal lese ich einen kleinen, anscheinend unbedeutenden Satz oder Teilsatz in der Bibel und bleibe irgendwie daran hängen. Diese wenigen Worte gehen mir dann nach – Minuten, Stunden, oft Tage.

So auch an dieser Stelle: „Er aber schrie noch viel mehr …“ (Lukas 18, 39)

„Was ist da bloß vorgefallen? Wie kam es dazu?“, habe ich dann immer wieder gedacht. Nein, das ist unpräzise! Denn die Situation und die Abfolge der Ereignisse sind zwar nur kurz, aber doch klar beschrieben. Ich meine das, was in der Hauptperson dieser Geschichte abgegangen ist und was letztlich zu diesem Geschrei geführt hatte, einem wahren Ausbruch von Emotionen!

Auf dem Weg …

Jesus war in der Nähe von Jericho unterwegs. Eine Menge Leute begleiteten ihn: die Jünger, nicht nur der engste Kreis, und vermutlich eine ganze Reihe von Anhängern, Schaulustigen und Neugierigen. Jesus war schließlich nicht irgendwer. Zu seiner Zeit war er eine Berühmtheit, jemand der Aufsehen erregte, wo er sich auch blicken ließ. Sein Ruf eilte ihm voraus: Der Mann der Zeichen und Wunder tat, viele Menschen von ihren Krankheiten heilte, Dämonen austrieb und dem sogar die Naturgewalten gehorchen mussten.1

Darüber hinaus klebten die Leute an seinen Lippen. Was Jesus sagte, beeindruckte und überzeugte. Selbst seine Gegner rieben sich die Augen und mussten sich eingestehen, dass dieser Wanderprediger aus Nazareth mit enormer Vollmacht sprach.2 Insofern war Jesus nicht nur einfach ein religiöser Führer, nein, für viele von ihnen war er einer der ganz großen Propheten wie beispielsweise Elia.3

… saß einer …

Am Wegesrand saß ein blinder Mann. Wir wissen nicht viel von ihm. Der Evangelist Lukas erwähnt nicht einmal seinen Namen.4 Er berichtet nur, was er dort tat: Betteln.

Was sollte er auch sonst tun? Einer normalen Arbeit konnte er nicht nachgehen. Werkstätten für Menschen mit Sehbehinderungen gab es nicht. Soziale Absicherung? Fehlanzeige. Und so war er angewiesen auf die Almosen, die die Leute ihm im Vorbeigehen in eine kleine Schale legten oder einfach vor die Füße warfen.

Wahrscheinlich war er täglich dort. Vielleicht wurde er von einem Bekannten morgens dahin geleitet oder er musste diesen Platz sogar völlig auf sich alleine gestellt finden. Und so saß er da am Wegesrand – ob es kalt oder warm war, ungeschützt bei jedem Wetter. Welch armseliges Leben das gewesen sein muss, können wir uns kaum vorstellen. So traurig, so trostlos, so hoffnungslos …

… Jesus kam vorbei …

Doch an diesem besonderen Tag hörte der Blinde plötzlich eine Menge Leute herankommen. Das war ungewöhnlich. Normalerweise war hier nicht so viel Betrieb. Es kamen zwar immer wieder Händler, Bauern, Handwerker und Reisende vorbei. Aber eher einzeln oder – wenn überhaupt – in kleinen Grüppchen. Nun jedoch war hier wirklich etwas im Gange! Und die Menschen, die nun schon ganz nahe herangekommen waren, schienen so aufgeregt. Die Unterhaltungen kamen dem Blinden fast hektisch vor. Viele Stimmen schnatterten durcheinander, vereinzelt hörte man lautes Rufen.

Schon gingen die Ersten vorüber. „Was ist denn bloß los?“, erkundigte sich der Blinde. „Jesus von Nazareth kommt gleich.“, riefen sie ihm zu. In diesem Moment war der blinde Mann hellwach. „Was“, durchfuhr es ihn, „etwa DER Jesus?“

Er hatte schon viel von ihm gehört. Die Leute in der Stadt und auf der Straße unterhielten sich über diesen Mann. Da er, der Blinde, ein Niemand war, achtete keiner auf ihn und so bekam er eine ganze Menge von ihren Gesprächen mit.

… wurde gerufen …

„Wenn mir einer helfen kann“, schoss ihm jetzt durch den Kopf, „dann dieser Jesus!“ Und so kam es, dass der Blinde alle Scheu ablegte und laut nach Jesus rief: „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“5

Das aber passte den Leuten ganz und gar nicht. Wie konnte so einer hier solch einen Krawall machen? „Sei leise und krakele hier nicht so rum!“, fuhren sie ihn an. „Meinst du etwa, dass Jesus für einen wie dich Zeit hat? Da hat er wirklich Besseres zu tun!“, spotteten andere.

So in etwa müssen wir uns die Situation vorstellen. Und nun? Hatten die Vorübergehenden etwa gedacht, dass der blinde Mann nun Ruhe geben würde? Mitnichten! Aus vollem Halse schrie er nun noch umso mehr und lauter nach Jesu: „Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“6

… und hatte Erbarmen.

„Erbarme dich meiner. Erbarme dich meiner.“ – was soll das bloß heißen? So etwas sagen wir ja heute gar nicht mehr. Andererseits trifft es jedoch genau das, was dieser Blinde unbedingt von Jesus brauchte. Und, wenn wir ehrlich sind, brauchen wir das alle heute auch noch!

Bei dem Blinden war das so einleuchtend. Er hatte nichts, was er Jesus hätte geben können. Doch Jesus, der Sohn Gottes, konnte ihm alles geben – nicht nur das Augenlicht.

Eine unnötige Geschichte?

Nun, die meisten von uns können sehen. Und deswegen scheint uns diese Geschichte nichts anzugehen. Wir können nicht wirklich etwas damit anfangen und neigen deswegen dazu, sie schnell abzuhaken und einfach weiter zu lesen.

Aber ist das wirklich so? Sind wir nicht tatsächlich auch blind? Nicht in Bezug auf die äußeren Dinge. Aber in Bezug auf die Angelegenheiten Gottes? Sind wir nicht streng genommen völlig hilflos, was das betrifft?

Wir glauben Bescheid zu wissen – über Gott und die Welt – und sind plötzlich völlig erstaunt darüber, dass uns der Durchblick fehlt.

Dann denken wir, wir könnten alles alleine schaffen, mit unserer Kraft, mit unseren Begabungen und mit unserem Geld. Und auf einmal müssen wir, angesichts der ein oder anderen Schwierigkeit, feststellen, wie machtlos wir tatsächlich sind und dass wir unser Leben alles andere als im Griff haben.

Außerdem verhalten wir uns oft so, als ob es nur um uns gehen würde und merken dabei gar nicht, dass sich die Erde auch ohne uns weiterdreht.

Das sind alles nur Beispiele, die möglicherweise auf dich gar nicht zutreffen. Aber natürlich könnte ich diese Kette weiter fortsetzen …

Um was zu zeigen? Ich formuliere es mal so: Weißt du, was der Blinde uns voraus hatte? Er wusste, dass er blind war! Sein Mangel war ihm klar. Er schränkte ihn bei den allermeisten Aktivitäten massiv ein. Der Blinde brauchte niemanden, der ihm dabei half seine Blindheit zu erkennen. Und deswegen war ihm in beinahe jeder Sekunde seines Lebens bewusst, dass er Hilfe brauchte.

Sohn Davids

Merkwürdig, wie der Blinde Jesus zweimal ansprach: „Du Sohn Davids …“. Was sollte das bedeuten? War Jesus nicht der Sohn von Maria und Josef? Natürlich war er das – einerseits. Andererseits stammte er aber tatsächlich aus der Linie des Königs David.7 Aber der wesentliche Aspekt, warum der Blinde Jesus so ansprach, ist, dass der von den Juden erwartete und herbeigesehnte Retter, der Gesalbte Gottes, das heißt der Messias (griechisch: Christus) nach dem alten Testament ein Nachkomme (oder Sohn) Davids sein sollte.8 Damit war die Anrede „Sohn Davids“ ein Ehrentitel.

Während viele der Sehenden damals also noch rätselten, wer Jesus eigentlich war, hatte es dieser Blinde schon begriffen und hatte keine Scheu, es laut heraus zu posaunen.

Möglicherweise waren auch deshalb einige der Begleiter Jesu so erschrocken und versuchten ihn zum Schweigen zu bringen. Jesus, ein besonderer Mann Gottes, ein außergewöhnlicher Rabbi und Lehrer, ein Prophet – das war ja noch okay, aber der Messias? Diese Anrede ging so manchem viel zu weit. Nicht so jedoch dem Blinden!

Erkennst du es? Das Schreien des Blinden nach Jesus war viel mehr als nur ein Hilferuf. Es war ein Zeugnis und Bekenntnis! Und es war nicht „totzukriegen“ – schon damals nicht, übrigens. Die Leuten konnten motzen, schimpfen, spotten, was sie wollten. Der Blinde schrie nur umso mehr und umso lauter nach Jesus, nach dem Sohn Davids, dem Messias und Christus, nach dem Heiland, seinem Heiland!

Glauben hilft

Der Blinde brauchte Hilfe. Er hatte nichts zu geben. Deswegen bat er Jesus um Erbarmen. Das ist die eine Seite der Medaille.

Auf der anderen Seite setzte er sein ganzes Vertrauen auf Jesus, den er für den Messias hielt.

Jesus sah den körperlichen Mangel, dieses eingeschränkte, elende Leben UND den Glauben, das Vertrauen und das Zeugnis dieses armen Mannes. Und so griff er ein. Jesus schenkte diesem blinden Mann nicht nur das Augenlicht, sondern machte ihn auch zu seinem Nachfolger.

Der Blinde ergriff beides mit Dankbarkeit. Er nahm nach der Heilung auch die Einladung Jesu zur Nachfolge an.9

Das Volk, das Zeuge von Jesu Handeln geworden war, stand staunend daneben und lobte Gott.

Wie hatte es Jesus so treffend ausgedrückt? „Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen.“ (Lukas 18, 42)


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1 vgl. Lukas 7, 22 und 8, 25
2 vgl. z.B. Matthäus 7, 29 und Markus 1, 22 + 27
3 vgl. Lukas 9, 19
4 nach Markus 10, 46 handelte es sich um Bartimäus, den Sohn des Timäus
5 Lukas 18, 38
6 Lukas 18, 39
7 vgl. Matthäus 1, 1 -17 und Lukas 3, 23 – 38
8 vgl. z.B. Jeremia 23, 5 + 30, 9 + 33, 15 und Markus 12, 35
9 vgl. Lukas 18, 42

Bibelverse zitiert aus:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart


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Über den Autor:

Torsten Ratschat, gebo­ren 1967, ist leitender Angestell­ter in der Stahl­industrie. Er ist verhei­ratet und hat 3 erwach­sene Kinder.

„Gottes Plan beinhaltet, dass mit unbekannten Leuten an unwichtigen Plätzen zu belanglosen Zeiten etwas ganz Großartiges und Wunderbares geschieht.“

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2 Antworten

  1. Günter Romer sagt:

    Torsten, Du schreibst sehr anschaulich und berührend. So als wäre ich selbst Teil dieser Geschichte.
    Danke für die meditative Betrachtung des Ausrufes „Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!“
    Günter

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